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     8. März 2004

Meldungen und Meinungen zum sogenannten "Kopftuchstreit"

Texte aus dem Internet-Forum des Fachverband


Den Tendenzen des Laizismus widersprechen
Ratsvorsitzender begrüßt Rede des Bundespräsidenten

22. Januar 2004
Zur Eröffnung der Sitzung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland am Donnerstag, 22. Januar, in Bad Neuenahr begrüßte der Vorsitzende des Rates, Bischof Wolfgang Huber, was der Bundespräsident zeitgleich in Wolfenbüttel zur Verständigung zwischen den Religionen vortrug. Johannes Rau hat sich bei seinem Vortrag anlässlich des 275. Geburtstag des Philosophen Gotthold Ephraim Lessing für eine Verständigung unter den Weltreligionen ausgesprochen, wie Lessing sie in seinem Drama "Nathan, der Weise" beschrieben hat. Huber begrüßte es, dass der Bundespräsident die christliche Prägung der deutschen Kultur hervorgehoben und dies mit der Verpflichtung auf die Religionsfreiheit auch für die Angehörigen anderer Religionen verbunden habe. "Es ist richtig," so Wolfgang Huber, "wenn der Bundespräsident angesichts der Debatte noch einmal betont, dass Deutschland kein religionsfeindlicher und kein religionsfreier Staat sei." Der Staat müsse nach seinem Selbstverständnis die Religionsfreiheit aller schützen.

Wolfgang Huber begrüßte es ausdrücklich, dass der Bundespräsident Tendenzen widerspricht, in Deutschland den Laizismus nach französischem Muster nachzubilden. Dies entspreche nicht der gesellschaftlichen und religiösen Tradition Deutschlands.


22.01.2004

" Bundespräsident beim Lessing Festakt"
Religionsfreiheit heute - zum Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland


Rede von Bundespräsident Johannes Rau beim Festakt zum 275. Geburtstag von Gotthold Ephraim Lessing in der Herzog-August-Bibliothek zu Wolfenbüttel

I.
Ich bin heute zum zweiten Mal als Bundespräsident in Wolfenbüttel. Hier steht seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert die bedeutendste Forschungsbibliothek, die es zur deutschen und europäischen Kultur- und Geistesgeschichte der frühen Neuzeit gibt.

Wir sind heute hier, um an einen Mann zu erinnern, der dieser Bibliothek zwei Jahrhunderte nach ihrer Gründung wichtige Dienste geleistet hat: der lutherische Pfarrerssohn Gotthold Ephraim Lessing. Heute vor 275 Jahren ist er geboren.

II.
Lessing teilte mit dem Gründer und mit dem Namensgeber dieser Bibliothek die Liebe zu Büchern und zur Gelehrsamkeit. Er hat dazu beigetragen, den guten Ruf der Bibliothek zu mehren, auch wenn er selber nicht in erster Linie Bibliothekar war.

Wir kennen ihn als Dichter, als Schriftsteller, als Journalisten und als Gelehrten. Und damit nicht genug: Er war Theoretiker und Praktiker, und zwar gleichermaßen.

Er kannte das Theaterhandwerk aus seinen engen Kontakten zu berühmten Schauspieltruppen der damaligen Zeit. Er kannte das Publikum. Kurze Zeit war er Dramaturg am damals neuge­gründeten Hamburger "Nationaltheater". Diese praktischen Erfahrungen haben vielleicht dazu beigetragen, dass seine Stücke besonders erfolgreich waren und dass sie bis heute gespielt werden - und nicht nur auf deutschsprachigen Bühnen.

Lessing verband aber auch in anderer Hinsicht Theorie und Praxis. Als Aufklärer war er ein "Selbstdenker" par excellence: ein Mann, der alle Dogmen kritisch befragte, alte und neue. Über die Ergebnisse seiner kritischen Betrachtungen schrieb er gelehrte Abhandlungen oder scharf­sinnige, oft scharfzüngige Rezensionen, die gefürchtet waren. Die kann man bis heute mit großem Vergnügen und mit großem Gewinn lesen.

Er schaffte es aber auch, seine Einsichten und seine Erkenntnisse im wahrsten Sinne des Wortes anschaulich zu machen: Er brachte sie auf die Bühne. Gotthold Ephraim Lessing war der Erste, der mit den Mittel des Theaters den Zuschauern vorgeführt hat, wie Menschen
unterschiedlichen Glaubens in gegenseitiger Achtung miteinander umgehen. Sein "Nathan der Weise" hat eine klare Botschaft: Menschen unterschiedlichen Glaubens - Christen, Juden, Muslime - können gleichberechtigt miteinander leben, und das ist gut für alle.

Ein neues Theater gehörte für Lessing untrennbar zur neuen bürgerlichen Zeit. Das Selbstver­ständnis der bürgerlichen Gesellschaft und der Deutschen als Nation zu finden, das war für Lessing politische und kulturelle Aufgabe zugleich.

Ü ber diesen Lessing zu sprechen, wäre reizvoll in einer Zeit, in der bei der Kultur so viele Abstri­che gemacht werden und in der viele gerade Theater und Oper als Luxusgüter missver­stehen und nicht als Orte der individuellen und gesellschaftlichen Selbstfindung und Selbstver­stän­digung, die sie doch auch sind oder sein sollten.

Heute möchte ich aber über das Thema seines "Nathan" sprechen: über das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen - bei uns in Deutschland und in der Welt.

III.
Das so genannte Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. September 2003, die in der Folge von einigen Landesregierungen geplanten oder schon beschlossenen Kopftuch­verbote für Lehrerinnen und die öffentlichen Diskussionen darüber: All das ist eine neue Runde in einer alten Debatte und in einer Auseinandersetzung, die immer geführt wird, wenn Menschen unter­schiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Religionszugehörigkeit und unterschiedlicher Überzeu­gungen aufeinander treffen.

Es geht um die Frage: Wie können Menschen miteinander leben, die ganz unterschiedliche Dinge für wahr und für richtig halten und auch manches tun, was die jeweils anderen unbegreiflich finden?

Wie das im besten Fall geschehen kann, das hat Lessing uns im "Nathan" gezeigt: Der christliche Tempelherr rettet Nathans Ziehtochter vor einem Brand - ohne Ansehen ihrer vermeintlichen Herkunft, weil das seiner Auffassung nach "nun einmal die Aufgabe von Tempelherrn ist"; der moslemische Sultan begnadigt ihn gegen alle Gewohnheit und der jüdische Kaufmann steht diesem Sultan in finanziellen Schwierigkeiten bei.

IV.
Erinnern wir uns: Als Lessing geboren wurde, lag der Westfälische Friede von 1648 gerade einmal achtzig Jahre zurück. Er hatte die schrecklichen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts beendet und das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten auf eine klare Grundlage gestellt. Das war ein großer Fortschritt, auch wenn die Konflikte zwischen ihnen damit beileibe nicht aus der Welt waren.

Für Juden dagegen gab es keinen "Religionsfrieden": Sie wurden weiter diskriminiert und verfolgt, wie manch andere auch. Die letzte so genannte Hexe wurde in Europa kurz nach Lessings Tod verbrannt, im Jahre 1782.

All diese Erfahrungen mit religiös begründeter Intoleranz haben dazu beigetragen, dass viele Menschen im Zeichen der Aufklärung jegliche Religion ablehnten. Noch in der Ersten Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche wurden Stimmen laut, die Kirchen und Religion als "Hemmschuh der Zivilisation" bezeichneten und deshalb verboten wissen wollten.

Unter den Aufklärern gab es aber auch ganz andere Stimmen. Der Unfriede in der Welt und der Hass zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens konnten und sollten ihrer Meinung nach anders überwunden werden: Die Menschen müssten sich darauf besinnen, was bei allen Unter­schieden im Einzelnen allen Religionen gemeinsam sei: der Glaube an Gott als Schöpfer und an seinen Schöpfungsplan. Sie leiteten das Prinzip aufgeklärten Denkens und Handelns aus der Existenz eines Gottes ab, der in unterschiedlicher Weise von allen Religionen verehrt wird.

Lessing hat im "Nathan" zu zeigen versucht, um wie viel menschenfreundlicher die Welt werden kann, wenn die Menschen nach diesen Prinzipien leben.

V.
Die Stimmen, die zu Lessings Zeit die Abschaffung von Religion gefordert haben, haben sich nicht durchgesetzt. Durchgesetzt hat sich aber die Vorstellung von einer Ordnung, die gegenüber allen Konfessionen und Religionen so viel Distanz wahrt, dass sie ihr friedliches Miteinander regeln und garantieren kann: nämlich der säkulare Staat.

Diese Vorstellung war auch deshalb erfolgreich, weil wir in Europa die Erfahrung gemacht haben, wie grausam und schrecklich kriegerische Auseinandersetzungen werden können, die im Namen eines absoluten Wahrheitsanspruches geführt werden.

Deswegen haben wir - im Gefolge der Aufklärung und der Entwicklung der Menschenrechtsidee - die Konsequenz gezogen, dass Religion und staatliche Ordnung unterschieden werden müssen, dass Glaubensüberzeugungen und Organisation des Gemeinwesens voneinander zu trennen sind.

So können zwei fundamentale Menschenrechte gewährleistet werden: die Freiheit des Gewissens und die Freiheit der religiösen Überzeugung und der religiösen Praxis. So kann das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Überzeugungen und Religionen geregelt werden.

Dazu mussten der Staat und die Kirchen einen für sie wesentlichen Verzicht leisten: Der Staat musste auf eine religiöse Rechtfertigung verzichten. Die Staatsgewalt ist nicht mehr "von Gott" verliehen, sondern geht "vom Volke aus". Das hört sich heute selbstverständlich an, das war es aber lange Zeit nicht. Die Religionen mussten ihrerseits darauf verzichten, ihren absoluten Geltungsanspruch, ihren "Wahrheitsanspruch", mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen.

Das Verhältnis von Staat und Kirche ist in Europa auf ganz unterschiedliche Weise geregelt, von den Staatskirchen in Skandinavien bis zum französischen Laizismus.

Wir in Deutschland haben uns für einen anderen Weg entschieden, einen Weg, für den Bischof Wolfgang Huber den Begriff "aufgeklärte Säkularität" geprägt hat. Staat und Kirche sind in Deutschland klar voneinander getrennt, aber sie wirken auf vielen Feldern im Interesse der ganzen Gesellschaft zusammen. Ich halte das, alles in allem, für den richtigen Weg, und ich sehe keinen Anlass dafür, dass wir uns dem Laizismus unserer französischen Nachbarn und Freunde anschließen sollten.

In Artikel 4 unseres Grundgesetzes heißt es: "Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet."

Deutschland gehört also zu den europäischen Ländern, deren Geschichte und deren Traditionen besonders vom christlichen Glauben geprägt sind. Die Religionsfreiheit, die unser Grundgesetz garantiert, gilt aber nicht nur für die christlichen Kirchen. Sie gilt, auch wenn das manchen nicht immer ausreichend bewusst ist, auch für andere Religionsgemeinschaften und gewiss für den Islam.

Die Grenze findet jede Kirche und jede Religionsgemeinschaft ausschließlich in den vom Grund­gesetz garantierten unveräußerlichen Menschenrechten. Auch sie gelten - wie die Religionsfreiheit - für alle, ob sie Christen, Muslime, Juden, Buddhisten oder Angehörige anderer religiöser Überzeugungen sind, natürlich auch für Menschen, die nicht gläubig sind.

Niemand hat in unserem Land das Recht, unter Berufung auf seinen Glauben die in unserem Grundgesetz garantierten Menschenrechte und Bürgerrechte zu verletzen.

Unser Staat ist kein religionsfeindlicher und auch kein religionsfreier Staat. Im Gegenteil: Unser Staat schützt die Religionsfreiheit aller.

VI.
Die Neutralität des freiheitlichen Staates gegenüber Religionen und Weltanschauungen darf aber nicht verwechselt werden mit einer Neutralität der Gesellschaft in diesen Fragen.

Im Gegenteil: Der weltanschaulich neutrale Staat ist auf Überzeugungen angewiesen, die in ver­schiedenen und unterscheidbaren Gemeinschaften gelebt werden, die Werte haben und die Orientierung geben wollen. Dazu gehören in besonderer Weise Kirchen und Religionsgemein­schaften, die ihre Vorstellungen in die Gesellschaft einbringen.

Unsere Gesellschaft ist kein religionsfreier Raum, und Religion ist nicht bloße Privatsache. Der öffentliche Charakter von Religionen wird bei uns anerkannt. Kirchen und Glaubensgemein­schaf­ten können und sollen öffentlich wirken, und ihre Einmischung in öffentliche Angelegenheiten ist ausdrücklich erwünscht.

Manchen ist zu wenig bewusst, welch eine große zivilisatorische Errungenschaft es ist, dass in einer pluralen Gesellschaft Menschen friedlich miteinander leben, die ganz unterschiedliche Überzeugungen haben. Das muss jeden Tag neu geübt und neu gelebt werden.

Für einen Christen, wie für jeden gläubigen Menschen, ist ja nicht jede Vorstellung von Transzendenz und jedes Gottesbild gleich gültig oder gleich viel wert.

Es ist doch ganz selbstverständlich, dass gläubige Menschen ihren Glauben für den richtigen Glauben halten. Das gilt für Christen genauso wie für Juden und Muslime.

Ich selber schöpfe Zuversicht und Kraft aus dem christlichen Glauben, der mir Trost und Hoffnung ist im Leben und im Sterben. Gleichzeitig habe ich Respekt vor allen, die ihr Leben auf andere Fundamente gründen.

Wenn in der pluralen Gesellschaft unterschiedliche Glaubensüberzeugungen aufeinander treffen, dann ist das eine spannende, manchmal aber auch eine sehr anstrengende Sache. Im Dialog braucht niemand seine Überzeugungen zu verleugnen. Vielleicht gibt es da noch zu häufig ein Missverständnis.

Manchmal herrscht ja der Eindruck vor, Toleranz und Respekt anderen gegenüber bedeuteten auch, andere Glaubenswahrheiten und Überzeugungen nicht nur zu achten, sondern sie als genauso richtig anzusehen wie die eigenen. Das ist ein Irrtum. Toleranz ist nicht Beliebigkeit. Toleranz und Respekt bedeuten ja gerade, dass man die Existenzberechtigung anderer Überzeu­gungen und Glaubenswahrheiten akzeptiert, die man nicht für richtig hält.

Der Staat schützt die Freiheit jedes Einzelnen, seinen Glauben zu leben, solange er nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Der Staat hat aber nicht die Aufgabe festzustellen, welche Religion die bessere ist oder gar eine Religion zu bevorzugen.

VII.
Ü ber den Zusammenhang von Menschenrechten und Religionen kann man heute nicht sprechen ohne einen Blick auf den Islam. Ich rede nicht von Terroranschlägen in vielen Teilen der Welt. Hier wird der islamische Glaube zwar oft als Legitimation benutzt, aber die große Mehrzahl der Muslime und der muslimischen Gelehrten lehnen Attentate als unvereinbar mit dem Islam ab.

Wir müssen uns aber mit der bisher ungelösten Frage auseinandersetzen, wie sich der Islam zum demokratischen Staat, zu Toleranz, zu Glaubensfreiheit und zu Gewissensfreiheit - zu den Men­schenrechten - verhält. Das ist eine Frage, die sich nicht nur in der islamisch geprägten Welt stellt. Das ist auch eine Frage bei vielen Muslimen, die in Europa und bei uns in Deutschland leben. Wir sollten sie dabei unterstützen, in dieser Frage voranzukommen.

Die klare Trennung von Staat und Religion, die in den meisten Staaten der westlichen Welt gilt, gibt es in dieser Form in den islamischen Staaten nur im Einzelfall und nur teilweise.

Die fehlende Trennung zwischen Staat und Religion macht aber so vieles so unendlich schwierig im internationalen aber auch im nationalen Dialog.

Die entscheidende Frage, die alle Staaten der Welt beantworten müssen, eine Frage, die weit über den Religionsdialog hinaus geht, sie heißt: Wie haltet ihr es mit den Menschen­rechten, mit Toleranz, mit der Gleichstellung von Mann und Frau, mit der Freiheit in Gewissens- und Glaubensfragen?

Das stellt uns auch vor die Frage, wie Religionsfreiheit als Menschenrecht überall auf der Welt verwirklicht werden kann. Darüber spreche ich bei meinen Staatsbesuchen auch in atheistisch oder islamisch geprägten Gesellschaften und Staaten. Schon in meiner ersten Berliner Rede am 12. Mai 2000 habe ich gesagt, dass viele Menschen bei uns sich leichter an den Anblick von Moscheen gewöhnen könnten, "wenn Christen in islamischen Ländern das gleiche Recht hätten, ihren Glauben zu leben und auch Kirchen zu bauen".

Religionsfreiheit gibt es aber auch in islamisch geprägten Gesellschaften. Die meisten von ihnen sind allerdings weit davon entfernt. Umso entschiedener müssen wir uns überall auf der Welt für Religionsfreiheit einsetzen, denn sie spielt heute eine Vorreiterrolle für die Durchsetzung weiterer kultureller Rechte.

In Europa und in Amerika wissen wir aus Erfahrung, wie lange es dauern kann, bis Menschen unterschiedlichen Glaubens friedlich zusammen leben und bis jede Religion das verbriefte Recht hat, ihren unbedingten Geltungs- und Wahrheitsanspruch auch öffentlich zu bekunden.

An diesem Ziel müssen wir festhalten. Dabei geht es nicht darum, europäische oder amerikanische Vorstellungen einfach auf andere Länder zu übertragen. Diese Länder müssen ihren eigenen Weg finden.

VIII.
Ob wir über die Situation in unserem eigenen Land oder in der gesamten Welt nachdenken: Uns sollte immer bewusst sein, dass es das Judentum so wenig gibt wie den Islam und so wenig wie das Christentum oder die westliche Welt.

Die Menschen muslimischen Glaubens, die heute bei uns leben, kommen aus ganz unterschied­lichen Ländern mit unterschiedlichen Traditionen und Wertvorstellungen. Das zeigt sich auch in der Debatte um das Kopftuch.

Ich rate uns allen dazu, dass wir auch in dieser Debatte nicht irgendwelchen Pauschalurteilen aufsitzen. Wir wissen doch alle, dass es muslimische Frauen gibt, die kein Kopftuch tragen, und zwar nicht, weil sie sich unseren Vorstellungen angepasst hätten - die gibt es auch -, sondern weil sie davon überzeugt sind, dass das nicht zu ihrem Glauben gehört.

Andere muslimische Frauen tragen ein Kopftuch, weil sie damit ihren Glauben öffentlich bezeugen wollen. Wieder andere muslimische Frauen werden durch mehr oder weniger Druck aus der Familie und ihrem Umfeld dazu gezwungen, ein Kopftuch zu tragen. Und gewiss gibt es auch muslimische Frauen, die ein Kopftuch als Ausdruck ihrer fundamentalistischen religiös-politischen Haltung tragen.

Die Debatte über das Kopftuch wäre also viel einfacher, wenn es ein eindeutiges Symbol wäre. Das ist es aber nicht. Deshalb muss in dieser Frage nach meiner festen Überzeugung der alte Grundsatz gelten: Der mögliche Missbrauch einer Sache darf ihren Gebrauch nicht hindern.

Darauf weist ja auch das Bundesverfassungsgericht in seinem ersten Urteil zum Kopftuchstreit hin. Ich zitiere:

" Der Aussagegehalt des von Musliminnen getragenen Kopftuchs wird höchst unterschiedlich wahrgenommen. Es kann ein Zeichen für als verpflichtend empfundene, religiös fundierte Beklei­dungsregeln wie für Traditionen der Herkunftsgesellschaft sein. In jüngster Zeit wird in ihm verstärkt ein politisches Symbol des islamischen Fundamentalismus gesehen. Die Deutung des Kopftuchs kann jedoch nicht auf ein Zeichen gesellschaftlicher Unterdrückung der Frau verkürzt werden. Dies zeigen neuere Forschungsergebnisse. Junge muslimische Frauen wählen das Kopftuch auch frei, um ohne Bruch mit der Herkunftsgesellschaft ein selbstbestimmtes Leben zu
führen."

So sehr wir jede Form von Fundamentalismus bekämpfen müssen, so wenig dürfen wir die Religionen unterschiedlich behandeln. Im demokratischen Rechtsstaat gilt das Recht auf Unterschiede, aber es gilt kein unterschiedliches Recht.

IX.
In der Diskussion über das pro und contra des Kopftuchverbots für Lehrerinnen wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Schule ein besonders sensibler öffentlicher Raum ist.

Es stimmt: Schülerinnen und Schüler müssen vor unzulässiger religiöser oder politischer Beein­flussung durch Lehrerinnen und Lehrer geschützt werden.

Jeder Gläubige hat als Lehrer eine besondere Pflicht zu beachten, eine Pflicht, die daraus erwächst, dass ihm der Staat und die Eltern Kinder zur Ausbildung und Erziehung anvertrauen. Deshalb muss er die Werte unseres Grundgesetzes vermitteln und die Erziehungsvorstellungen der Eltern achten und seine eigenen Überzeugungen in der Schule zurücknehmen. Das bedeutet aber nicht, dass er seinen Glauben in der Schule verbergen oder verstecken muss. Das gilt für alle Lehrerinnen und Lehrer.

Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nicht ein Symbol einer Religion - und das ist das Kopf­tuch jedenfalls auch - verbieten und dennoch glauben können, wir könnten alles andere beim Alten lassen. Das ist mit der Religionsfreiheit, die unser Grundgesetz allen Menschen garantiert, nicht vereinbar und würde deshalb das Tor zu einer Entwicklung öffnen, die doch die meisten Befürworter eines Kopftuchverbots gar nicht wollen.

Ich fürchte nämlich, dass ein Kopftuchverbot der erste Schritt auf dem Weg in einen laizistischen Staat ist, der religiöse Zeichen und Symbole aus dem öffentlichen Leben verbannt. Ich will das nicht. Das ist nicht meine Vorstellung von unserem seit vielen Jahrhunderten christlich geprägten Land.

Dabei ist uns allen doch klar, dass die Frage, ob wir dies Erbe fortführen, nicht von Bekleidungs­vorschriften abhängt. Ob wir weiterhin ein christlich geprägtes Land sind, das hängt allein und zuerst davon ab, wie viele überzeugte und glaubwürdige Christen es bei uns gibt.

X.
Wir müssen die Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus führen, aber differenziert und an der richtigen Stelle. Pauschaler Verdacht stärkt den Fundamentalismus, statt ihn zu schwächen.

Natürlich ist es notwendig, Schüler und Schülerinnen vor jeder Beeinflussung in einem islamisch-fundamentalistischen Sinne zu schützen - so wie wir sie vor jeder Indoktrinierung und vor jedem Extremismus schützen müssen, gleich welcher Art. Wo das nötig ist, muss mit disziplinarischen Mitteln eingegriffen werden, die auch dafür vorgesehen sind.

Alle, die in unserer Gesellschaft leben, müssen wissen, dass wir es nicht dulden, wenn Frauen aus traditionellen oder kulturellen Gründen nur mindere Rechte haben. Ich denke da beispielsweise daran, dass junge Frauen gegen ihren Willen verheiratet werden oder dass Mädchen in der Schule von bestimmten Schulfächern fern gehalten werden.

Wir können und wir müssen erwarten, dass die Menschen, die nach Deutschland kommen, unsere Sprache lernen. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass in vielen ersten Klassen fast kein einziger Schüler altersgemäß Deutsch spricht. Wir brauchen mehr und bessere Angebote für Eltern und Kinder. Da haben wir in der Vergangenheit viel versäumt, weil wir so getan haben, als wären wir kein Einwanderungsland.

Wir müssen auch dafür sorgen, dass islamischer Religionsunterricht nicht den Koranschulen allein überlassen bleibt. An unseren Schulen muss auch islamischer Religionsunterricht angeboten werden, der von ausgebildeten und staatlich geprüften Lehrern erteilt wird.

So können wir deutlich machen: Integration bedeutet gerade nicht kulturelle Entwurzelung oder gesichtslose Assimilation. Integration bedeutet die immer wieder zu erneuernde Bindung aller an die gemeinsamen Werte unserer Verfassung. Dass das gelingen kann, das zeigen viele Beispiele überall in Deutschland.

XI.
Zur Auseinandersetzung mit dem Fundamentalismus gehört auch, deutlich zu sagen, dass Funda­mentalismus nicht nur die Sache einer Religion oder einer Überzeugung ist.

Allen Fundamentalisten ist eines gemeinsam: die Überzeugung, allein im Besitz der Wahrheit vom Sinn menschlicher Existenz und von dem Weg zu sein, der zur Erfüllung dieses Sinnes führt. Darum bekämpfen Fundamentalisten Vertreter anderer Wertordnungen, und manche halten sich sogar für berechtigt, das mit Gewalt zu tun.

Zu Lessings Zeiten gab es das Wort Fundamentalismus noch nicht, aber genau darauf ist doch gemünzt, wenn er sagt:

" Ich hasse alle die Leute, welche Sekten stiften wollen, von Grund meines Herzens. Denn nicht der Irrtum, sondern der sektiererische Irrtum, ja sogar die sektiererische Wahrheit machen das Unglück der Menschen - oder würden es machen, wenn die Wahrheit eine Sekte stiften wollte."

Solcher Art von Fundamentalismus, den Lessing so hasste, müssen wir entschieden entgegen­treten. Das wird uns aber nur dann gelingen, wenn wir glaubwürdig zeigen können, dass die so genannte westliche Werteordnung nicht nur ein anderes Wort dafür ist, das Glück der einen auf dem Unglück der anderen zu bauen.

Das kann uns gelingen, weil die abendländische Kultur in Menschen ja viel mehr sieht als Teilneh­mer am Wettbewerb, als Konkurrenten um Arbeitsplätze und Marktchancen oder als bloße Konsu­menten von Gütern, von Unterhaltungsangeboten und von beliebigen Weltbildern, denen jede Werteorientierung fehlt.

Jede und jeder von uns, die im persönlichen und im öffentlichen Leben deutlich machen, dass es für sie Werte jenseits von Angebot und Nachfrage gibt, tragen bei zu einem gesellschaftlichen Klima, das Respekt und Toleranz fördert und Beliebigkeit oder Fundamentalismus zurückdrängt.

Das ist heute nötiger denn je. Wir können uns dabei von einem Grundsatz leiten lassen, den Lessing einmal in dieses eindrucksvolle Bild gefasst hat:

" Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, sich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte ihm: Vater gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für Dich allein!"

XII.
Heute vor 275 Jahren wurde Gotthold Ephraim Lessing geboren. Wir verdanken ihm viel. Ich werde nachher zu seinem Grab auf dem Dom- und Magni-Friedhof in Braunschweig gehen, um ihn zu ehren.
Die Kapelle auf diesem Friedhof nutzt seit einiger Zeit eine kleine griechisch-orthodoxe Gemeinde als Gotteshaus. So steht Lessing, der Bilder und Sinnbilder so sehr geliebt hat, auch auf diese Weise über den Tod hinaus für Respekt und Toleranz zwischen Religionen und Kulturen.


Hamburger Abendblatt, 03.02.04:
Bischof Huber: Kopftuch für Lehrerinnen verbieten
Berlin - Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, und die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann haben erneut für ein Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen plädiert. Der Berliner Bischof bezog am Wochenende im RBB-Hörfunk deutlich Position gegen die ablehnende Haltung von Bundespräsident Johannes Rau zum Kopftuchverbot.

Mit Blick auf Raus Mahnung, die Religionen gleich zu behandeln, sagte Huber: "Wer für die Religionsfreiheit eintritt, braucht darum noch nicht das Kopftuch der islamischen Lehrerin zu bejahen." Zwar dürften religiöse Überzeugungen nicht aus dem öffentlichen Raum verbannt werden. Es müsse aber immer wieder über die Form nachgedacht werden.

Auch die hannoversche Bischöfin Käßmann bekräftigte die Forderung nach einem Kopftuchverbot für Lehrerinnen. Eine Beamtin müsse sich der Mehrdeutigkeit des Kopftuches als religiöses und politisches Symbol bewusst sein, sagte sie der "Welt".


Hamburger Abendblatt, 03.02.04:
Kopftuch als Unterdrückung
Allensbach - Die Mehrheit der Deutschen sieht nach einer Allensbach-Umfrage im muslimischen Kopftuch ein Symbol für die Unterdrückung der Frau. Rund 53 Prozent der Bundesbürger seien anderer Meinung als Bundespräsident Johannes Rau, der im so genannten Kopftuchstreit für eine Gleichbehandlung der Religionen auch in der Schule eintritt.

 

 
 
 

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